Korbach, den 4.06.2006Der große Altar am JordanLiebe Geschwister! Nimmt es mir nicht übel, wenn ich gleich zu Beginn euch und mir selbst eine Grundsatzfrage stelle: Warum sind wir zu dieser Versammlung gekommen? Vielleicht sind wir vor Allem gekommen, weil wir die Wahrheit lieben. Vielleicht sind wir aber auch hier, weil wir gerne Vorträge hören und gerne in Gemeinschaft des Volkes Gottes über biblische Themen sprechen. Vielleicht sind wir auch aus einem ganz einfachen Grund hierher gekommen: um Geschwister zu treffen. Das sind sehr gute Gründe, um an einer solchen Gemeinschaft teilzunehmen, wie wir sie heute haben. Ich denke aber, dass es unser wichtigstes Ziel sein sollte und unser wichtigstes Ziel ist, Gott eine Ehre zu erweisen und Ihm ein Opfer des Lobs und des Preisens darzubringen. Wir fahren zu Versammlungen, um unseren Gefühlen in einem Lobbouquet für Gott Ausdruck zu verleihen. Wenn wir unsere Emotionen und das Ziel unseres Zusammenkommens mit einem Bild aus dem Alten Testament beschreiben sollten, würden wir sagen, dass wir hierher gekommen sind, um einen Altar für Gott zu bauen. Gemäß der Definition von Apostel Paulus (nach Römer 12:1) können unsere Leiber als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer dargebracht werden. Wir wollen ihm einen vernünftigen Dienst, positive Gefühle, sowie gute Gedanken und Taten darbieten. Ein Opfer bedarf aber eines Altars. Deswegen müssen die Gläubigen mit gesammelten Kräften ein „Gerät” bauen, auf dem Gott wohlgefällige Opfer dargebracht werden können. Es stimmt zwar, dass wir einen Altar im Himmel haben und wir unser Opfer dem Großen Hohenpriester, Jesus Christus, persönlich darbringen können. Er wird es annehmen und an einer angemessenen Stelle des himmlischen Tempels ablegen. Andererseits scheint es ein guter Gedanke zu sein, mit gesammelten Kräften unserer Gemeinschaft einen symbolischen Altar für Gott zu erheben, von dem ein angenehmer Geruch eines wohlgefälligen Opfers zum Himmel hinaufsteigt. Unsere Treffen am Samstag oder Sonntag können den Bau eines solchen Altars ermöglichen. Und wir möchten, dass auch unsere Versammlung hier in Korbach zu einem solchen Altar wird. Das Vorbild für diese Gedankengänge finden wir in der Bibel. Hier denke ich vor Allem an die herrlichen Altäre in Moses Stiftshütte und in Salomos Tempel. Der Verfasser der Broschüre „Stiftshütte” schrieb, dass der Erzaltar im Vorhof das Loskaufopfer Christi darstellt und der Glaube an dieses Opfer uns ermöglicht, unsere Leiber zu opfern: „Durch den Glauben an Christi Loskaufopfer, dargestellt durch den Altar von Erz, treten wir durch das „Tor” in den „Vorhof” – der Vorhang von Unglauben und Sünde ist durchschritten.” (Die Stiftshütte, Seite 25) Weiter schreibt der gleiche Autor: „Der Goldene Altar im „Heiligen” sollte, wie es scheint, die „kleine Herde”, die geweihte Kirche im gegenwärtigen Opferzustand, darstellen.” (Seite 122) Wir wissen aber, dass die Geschichte der Altäre in der Bibel nicht nur mit der Stiftshütte und dem Tempel verbunden ist. Viele Männer Gottes bauten Altäre. Die in der Bibel beschriebenen Anzeichen des Götzendienstes und falschen Kults übergehen wir. Wir denken aber gerne an den Altar von Noah, die vier Altäre von Abraham, Isaaks Altar und die zwei Altäre, die Jakob errichtet hatte. Moses selbst hatte zwei Altäre aus Stein am Fuße des Bergs Sinai gebaut, bevor die Stiftshütte errichtet wurde. Auch nach dem Eintritt in das Gelobte Land wurden trotz der Existenz der Stiftshütte und selbst des Tempels in Jerusalem Altäre aus Stein gebaut. Wir wollen nur ein Paar von ihnen nennen: Josuas Altar auf dem Berg Ebal, Gideons Altar in Ofra, Samuels Altar in Rama oder Elias Altar auf dem Berg Karmel. Unter diesen zahlreichen Geschichten, die über den Bau von Altären aus Stein berichten, sticht eine weniger bekannte als besonders interessant hervor. Sie ereignete sich zu Lebzeiten Josuas, als das Gelobte Land bereits erobert und geteilt war. Die damaligen Ereignisse sind im 22. Kapitel des Buchs Josuas, im Vers 10, beschrieben: „Und als sie in die Bezirke des Jordan kamen, die [noch] im Land Kanaan [liegen], da bauten die Söhne Ruben und die Söhne Gad und der halbe Stamm Manasse dort einen Altar am Jordan, einen Altar, groß von Aussehen.” Um besser nachvollziehen zu können, was an jenem Tage am Jordanfluss wirklich geschah, müssen wir einige Jahre zurückgehen und in eine Zeit zurückblicken, als Moses noch am Leben war und Israel auf moabitschen Feldern, gegenüber von Jericho, sein Lager aufgebaut hatte. Dort lieferten sie sich siegreiche Kämpfe mit im Ostjordanland herrschenden Königen. Damals wollte ein Teil der Israeliten den Jordan nicht überqueren und sich an seinem Ufer ansiedeln. Wir lesen darüber im 4. Buch Moses 32:2,4,5: „Und die Söhne Gad und die Söhne Ruben kamen und sprachen zu Mose (...) Wenn wir Gunst in deinen Augen gefunden haben, dann möge dieses Land deinen Knechten zum Eigentum gegeben werden! Lass uns nicht über den Jordan ziehen!” Moses gefiel diese Einstellung der Söhne Rubens, Gads und eines Teils der Söhne Manasses nicht, aber er sagte ihnen unter gewissen Bedingungen die amoritischen Gebiete – Basan und Gilead – als ewiges Erbe im Gelobten Land zu. (nach 4. Mose 32:33-42) Diese Fakten sind besonders in der heutigen Zeit erwähnenswert, denn heute wird Israels Siedlungsrecht am „westlichen Jordanufer” angezweifelt. Die Israeliten hätten eigentlich das Recht, sich östlich des Jordans, also auf dem Gebiet des heutigen Syrien und Jordanien, anzusiedeln. Wir erwarten nicht nur, dass Israel von „westlichen Jordanufer” nicht vertrieben wird, sondern auch, dass ihm die eroberten Gebiete am Jordan, in den Gebieten von Basan und Gilead, zurückgegeben werden. Aber das soll nicht Thema unserer heutigen Betrachtung sein. Ich erwähne es nur, um die historischen Umstände, unter welchen der große Altar am Jordan erbaut wurde, besser verständlich zu machen. Als sie das Erbe östlich des Jordans antraten, verpflichteten sich die Söhne Rubens und Gads, so lange an der Seite ihrer Brüder weiterzukämpfen, bis das ganze Land Kanaan jenseits des Jordans erobert würde. Sie versprachen, erst nach Ende des Krieges in das ihnen zugeteilte Ostjordanland zurückzukehren. Im 22. Kapitel des Buchs Josua, der der Gegenstand unserer Betrachtung ist, wird dieser ersehnte Moment der Rückkehr beschrieben. Der Krieg war zu Ende, die wichtigsten Festungen Kanaans waren erobert. Im Gelobten Land herrschten die Israeliten. Kanaan wurde unter den einzelnen Stämmen aufgeteilt. Für die Söhne Rubens, Gads und die Hälfte der Söhne Manasses war es also Zeit, in ihre Häuser, zu ihren Familien, die sie auf der anderen Seite des Jordans zurückgelassen hatten, zurückzukehren. Josua ruft also diese Stämme zu sich nach Silo, an den Ort, wo die Stiftshütte stand. Er lobt sie, dass sie ihr Wort gehalten haben und an der Seite ihrer Brüder mutig um das Gelobte Land gekämpft haben. Josua segnet sie und erlaubt ihnen zu gehen; er ermahnt sie nur, nach der Rückkehr in ihr Land das am Berg Sinai geschlossene Bündnis nicht zu vergessen, den Geboten der Torah zu folgen, Gott zu lieben und auf allen seinen Wegen zu wandeln und ihm anzuhängen und ihm zu dienen mit ihrem ganzen Herzen und mit ihrer ganzen Seele. Die Söhne Rubens, Gads und die Hälfte der Söhne Manasses verabschiedeten sich von ihren Brüdern in Silo und machten sich auf den Weg nach Gilead. Auf diesem Weg, an der Grenze zwischen Kanaan und Gilead, als sie den Jordan überqueren wollten, bauten sie einen Altar aus Stein, (den wir bereits erwähnt haben.) Der Bau muss eine gewisse Zeit in Anspruch genommen haben. Wahrscheinlich war er noch nicht beendet, als die Boten der Einwohner jener Gebiete in Silo ankamen, um Josua über den Bau des Altars am Jordan zu informieren. Die Sache sah verdächtig aus. An der Grenze zwischen Kanaan und Gilead, das heißt an der Grenze zwischen den von neuneinhalb Stämmen bewohnten Gebieten und dem Ostjordanland, das den zweieinhalb Stämmen zugeteilt worden war, entstand ein Altar, der die Grundlage eines neuen Kults bilden konnte. Wir kennen aus jüngerer Zeit die Geschichte des Königs Jerobeam, der nach der Teilung des Königreiches Salomos in zwei Staaten, einen nördlichen und einen südlichen, abtrünnigen Altäre in Betel und Dan aufstellte, um sich vom Kult des Jerusalemtempels abzusondern. Die Befürchtungen der Israeliten bezüglich des Altars scheinen also völlig berechtigt gewesen zu sein. Die Entscheidung fällt schnell: Es soll ein Krieg gegen die Brüder erklärt werden. Man kann angesichts des Risikos der Spaltung nicht untätig bleiben. Man muss in einem bewaffneten Kampf gegen die separatistischen Tendenzen vorgehen und mit dem Schwert die Einheit des Gotteskults verteidigen. Bevor die Armee zusammengerufen wurde, machten sich Gesandte unter der Führung des Priester Pinhas, des Enkels von Aaron, auf den Weg nach Gilead. An der Delegation nehmen auch 10 Fürsten teil – einer aus jedem der Stämme, die im Gelobten Land jenseits des Jordans wohnten. Die Führung der zweieinhalb Stämme, die in Gilead versammelt waren, empfängt die Gesandten unter der Führung Pinhas und hört sich den folgenden Vorwurf an: „Was ist das für eine Untreue, die ihr gegen den Gott Israels geübt habt, dass ihr euch heute abwendet von dem HERRN, indem ihr euch einen Altar baut, um euch heute gegen den HERRN aufzulehnen?” (Josua 22:16). Anschließend wird der Götzendienst in Baal Peor, der Gottes Zorn entfacht hatte und Tausenden von Israeliten den Tod gebracht hatte, als Beispiel genannt. Es war der Vorsitzende der Delegation, der Priester Pinhas, der damals durch das Töten eines Schuldigen den Rest Israels von dem Niedergang bewahrt hatte. Erst die Bestrafung des Schuldigen brachte den Frieden mit Gott zurück. In ihrer Argumentation weisen die Vertreter der zehn Stämme nicht nur auf die Sünde einzelner Menschen oder Stämme hin, sondern auch auf die damit verbundene Gefahr für ganz Israel. Der Herr hat einen Bund mit dem ganzen Volk geschlossen. Selbst wenn nur ein Teil Israels, oder einzelne Personen, ihn brachen, litten alle darunter. Auf diese Weise zwang Gott die Israeliten zu einer nationalen Solidarität und zur Verbannung der Sünder aus ihrer Mitte. Man könnte einwenden, dass es sich hier um ein ungerechtes Prinzip der Gruppenverantwortung handelt: einer hat gesündigt, und alle werden bestraft. Wir können aber Gott keine Ungerechtigkeit vorwerfen. Sein Handeln ist mit Sicherheit gerecht. Es ist eher unsere Auffassung von Gerechtigkeit, die uns trügt und der Korrektur bedarf. Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, einsam zu leben. Er bildet Gemeinschaften, deren Mitglieder voneinander abhängig sind und einander beeinflussen. Der schlechte Einfluss eines Menschen oder einer kleinen Gruppe kann Sünde für alle bringen. Deswegen tragen alle, oder zumindest viele, die Konsequenzen falschen Verhaltens einzelner. Das ist die Logik des Lebens in Gemeinschaft und darauf basiert Gottes Gerechtigkeit: Wegen der Sünden eines Verbrechers, der von der Gemeinschaft toleriert wird, leidet die ganze Gemeinschaft. Der Gedankengang der Gesandten der zehn Stämme war folglich völlig richtig. Ihre Sorge um die gesamte Gemeinschaft Israels, die sie durch den Tadel an der vermeintlichen Sünde der zwei Stämme zeigte, war berechtigt. Das einzige Problem bestand darin, dass ihre Einschätzung der Situation nicht ganz richtig war. Sie hatten sich nicht die Frage gestellt, ob tatsächlich eine Sünde vorliegt. Sie hatten nicht darüber diskutiert, ob der Bau eines solchen Altars am Jordan wirklich gegen das Gesetz Gottes verstößt. Aus der jüngeren Geschichte des Baus von Altären – jenen von Elias oder Samuel – wissen wir, dass Gott sich nicht notwendigerweise über die Erbauer solcher Altäre erzürnte, selbst wenn ihr Ziel das Darbringen von Opfern war. Dies bedeutet, dass der Bau eines Altars nicht immer ein Verstoß gegen das Gesetz war. Beim Altar am Jordan handelte es sich um einen Präzedenzfall. Folglich konnten die Israeliten zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen, welche Haltung sie dieser Situation gegenüber einnehmen sollten. Es wäre aber vielleicht besser gewesen, statt den beiden Stämmen Abtrünnigkeit vorzuwerfen, sie lieber zunächst zu fragen, mit welcher Absicht sie einen solchen Altar am Jordan bauten. Seien wir aber nicht allzu kleinlich. Vielleicht wären wir selbst beleidigt, wenn jemand zu uns käme und uns wegen einer Sünde tadelte, die wir gar nicht begangen haben. Vielleicht würden wir ihn oder sie wegschicken, ohne eine Erklärung zu geben, weil wir seine oder ihre Worte als zu forsch, zu ungerecht und unberechtigt ansehen würden. Die Vertreter der zwei Stämme verhielten sich aber nicht so. Gott sei Dank dafür, denn hätten sie die Gesandten unter Pinhas ohne eine Erklärung weggeschickt, hätten sie sich selbst und die anderen Israeliten einem Bürgerkrieg ausgesetzt. Dies ist ein beeindruckendes Beispiel für Großherzigkeit und der Bereitschaft zur Verständigung mit anderen. Nachdem sie sich die Vorwürfe der Delegation der zehn Stämme angehört hatten, erklärten die Söhne Rubens, Gads und die Hälfte der Söhne Manasses, dass der Altar nicht gebaut werden sollte, um sich von den anderen Israeliten abzusondern, dass er nicht einmal für Opfergaben benutzt werden sollte. Im Gegenteil – er sollte ein Denkmal ihrer Zugehörigkeit zu Israel sein. Wir wollen den schönen Worten der vermeintlich Abtrünnigen lauschen, die ihre Absichten erklären: „Wir wollen uns daran machen, den Altar zu bauen, nicht für Brandopfer und nicht für Schlachtopfer, sondern ein Zeuge soll er sein zwischen uns und euch und zwischen unseren Geschlechtern nach uns, damit wir den Dienst des HERRN vor ihm verrichten mit unseren Brandopfern und mit unseren Schlachtopfern und mit unseren Heilsopfern und damit nicht eure Söhne künftig zu unseren Söhnen sagen: Ihr habt keinen Anteil am HERRN! Und wir sagten [uns]: Geschieht es, dass sie künftig zu uns oder zu unseren Geschlechtern [in dieser Weise] sprechen, dann werden wir antworten: Seht die Nachbildung des Altars des HERRN, die unsere Väter gemacht haben, [und zwar] nicht für Brandopfer und nicht für Schlachtopfer, sondern ein Zeuge [soll sie sein] zwischen uns und euch! Fern von uns sei es, uns gegen den HERRN aufzulehnen und uns heute vom HERRN abzuwenden, indem wir einen Altar bauen für Brandopfer, für Speisopfer und für Schlachtopfer neben dem Altar des HERRN, unseres Gottes, der vor seiner Wohnung [steht]!” (Josua 22:26-29) Man kann sich gut vorstellen, welche Erleichterung die Gesandten der zehn Stämme verspürten, als sie dies hörten. Die Bibel belegt nur, dass diese Worte Pinhas und den anderen Gesandten gefielen. Ich male mir aber gerne aus, wie die Brüder sich gegenseitig in die Arme fielen und Gott dafür priesen, dass statt eines Krieges Frieden herrschte und sie ein herrliches Denkmal am Jordan gewonnen hatten, das viele spätere Generationen nicht nur an die Notwendigkeit, Gott zu dienen und seine Gebote zu befolgen, erinnern würde, sondern auch an die Einheit der 12 Stämme Israels und die herrliche Versöhnung, die dank der Vernunft, des Verständnisses und des Friedensgeistes stattfinden konnte. Die israelische Delegation kehrte nach Silo zurück, wo sie sicherlich mit großer Spannung von Josua und anderen Anführern erwartet wurde. Ihre Freude war groß, als sie erfuhren, dass sie keinen Krieg gegen ihre Brüder führen mussten: „Und die Sache war gut in den Augen der Söhne Israel. Und die Söhne Israel dankten Gott und sprachen nicht mehr davon, gegen sie hinaufzuziehen zum Krieg, um das Land zu vernichten, in dem die Söhne Ruben und die Söhne Gad wohnten.” (Josua 22:33) Die Söhne Rubens und Gads gaben dem Altar den Namen ED, was übersetzt „Zeuge” oder „Zeugnis” bedeutet. Sie sagten: „Denn Zeuge ist er zwischen uns, dass der HERR Gott ist.” (Josua 22:34) Liebe Geschwister, ich muss euch gestehen, dass ich sehr gerührt bin, während ich euch und mir diese Geschichten vor Augen führe. Man findet in der Bibel wenige vergleichbare Beispiele für gegenseitiges Verständnis und Versöhnung. Mir fällt noch die rührende Geschichte der Versöhnung von Jakob und Esau ein, die sich auch am Jordan abspielte, vielleicht sogar etwa am gleichen Ort. An ebendiesem Ort versöhnte sich etwas früher Jakob mit Laban. Menschen, die Kriege gegeneinander führen wollten, lobten gemeinsam Gott den Vater und Fürsprecher des Friedens. Es sind einzigartige Geschichten, herrliche Vorbilder, an denen sich alle Gläubigen orientieren sollten! Welche persönlichen Schlüsse sollten wir aus dieser Geschichte ziehen? Ich denke, dass die grundlegenden moralischen Lehren offensichtlich sind und während der Analyse der Geschichte vom großen Altar am Jordan erfasst werden konnten. Die erste und wichtigste Schlussfolgerung kann aus dem Verhalten der Führer der 10 Stämme abgeleitet werden: Bevor wir in den Krieg gegen unsere Brüder ziehen, sollten wir eine Friedensbotschaft schicken. Wir sollten sichergehen, dass wir die Situation richtig verstehen und uns fragen, ob wir tatsächlich die Wahrheit verteidigen, ob wir tatsächlich gegen Irrtum und Sünde vorgehen. Möge sich in unseren Streitigkeiten nie herausstellen, dass wir trotz bester Absicht Streit verursacht, unsere Illusionen verteidigt, oder sogar gegen Gott gekämpft haben. Die zweite wichtige Lehre, auf die wir bereits hingewiesen haben, folgt aus der Haltung der Söhne Rubens und Gads. Sie waren nicht beleidigt, als die Botschafter der 10 Stämme schon im Vorfeld falsche Vorwürfe gegen sie erhoben. Sie schickten die Delegation nicht weg, sie sagten nicht: „Geht weg und denkt erst einmal über die ganze Sache nach. Und wenn ihr darüber nachgedacht habt, ob der Bau eines Altars immer eine Sünde sein muss, kommt wieder und fragt uns, was unsere Absichten waren, anstatt uns gleich Abtrünnigkeit vorzuwerfen.” Nein, sie verhielten sich nicht so. Ruhig, ohne Beleidigungen, erklärten sie den Botschaftern, weswegen sie den Altar gebaut hatten und erzielten damit einen sofortigen Erfolg – Frieden und Freude mit Gott. Wie viele Konflikte weniger würde es zwischen uns Menschen geben, wenn wir nicht kleinlich wären. Wenn es uns gelingen würde bei ungeschickten Aussagen ein Auge zuzudrücken, wenn es uns gelingen würde, keinen großen Wert auf die Wortwahl zu legen, keine versteckten Botschaften aus einfachen Aussagen herauslesen zu wollen, wäre es wesentlich einfacher uns in unseren Konflikten miteinander zu verständigen. Wenn es unser übergeordnetes Ziel ist, Versöhnung und Frieden herbeizuführen, sind wir eher geneigt, Verständnis zu zeigen und sofort zum Punkt zu kommen und die Sache zu klären, so wie es die Söhne Rubens und Gads taten. Auch die symbolische Lehre aus dieser Geschichte ist interessant. Sie kann aus der Begründung gezogen werden, die die Erbauer des Altars angaben. Sie bemerkten, dass der Jordan eine natürliche Grenze zwischen den 10 Stämmen jenseits und den zwei diesseits des Jordans war. Sie befürchteten, dass nach einiger Zeit die jenseits des Jordans wohnenden Israeliten sagen könnten, dass die Ostjordanlandbewohner nicht mehr Teil ihrer Gemeinschaft sind. Diese Befürchtungen waren gerechtfertigt, wie die weitere Geschichte dieser Gebiete zeigt. Der Jordan ist tatsächlich nie ein inländischer Fluss Israels gewesen. Bis heute ist er eine Grenze geblieben. Wie wir wissen, wird eine Zeit kommen, in der Jordan keine Grenze des Gelobten Landes mehr bilden wird und, wie zu der Zeit Salomos, auf beiden Seiten des Flusses Israeliten leben werden. Momentan bildet der Jordan immer noch eine Grenze. Sowohl im geographischen und politischen als auch im symbolischen Sinne. Manchmal verwenden wir den Jordan als Bild für die Grenze zwischen Leben und Tod, manchmal als Bild für die Taufe, manchmal als die Grenze zum Königreich Gottes. Eine Grenze kann trennen oder verbinden. Die Geschichte belegt, dass um Grenzverläufe häufig Kriege geführt wurden. Wenn es aber den Menschen gelang, mit beidseitiger Zustimmung eine Grenze einzurichten, dann stellte sich oft heraus, dass sie die auf ihrer beiden Seiten lebenden Menschen miteinander verband. In den vergangenen Jahren haben wir solche Prozesse in Bezug auf die Staats- und Nationalitätsgrenzen in Europa beobachten können. Ich denke hier aber auch an andere, an geistige Grenzen – kulturelle, sprachliche, religiöse. Sich eine solche Grenze klarzumachen und sie richtig zu benennen muss nicht bedeuten, dass man gegenüber den Menschen jenseits dieser Grenze feindselig eingestellt ist. Manchmal ist sogar das Gegenteil der Fall. Menschen, deren Identität klar definiert ist, die sie schätzen und stolz auf sie sind, können besser mit kulturellen oder religiösen Unterschieden umgehen. Manche Grenzen zwischen den Menschen wurden von Gott selbst gemacht. Es stimmt, dass unsere Vorfahren sich mit dem Bau des Turms von Babel gegen Ihn aufgelehnt haben. Als Strafe dafür vermischte Gott ihre Sprachen. Die Folgen dieser Verdammung bekommen wir bis zum heutigen Tage zu spüren. Später teilte Gott aber die Erde in 70 Sprachgebiete ein und ordnete jedem Land sein eigenes Erbe zu. Gott hat uns aber keine Feindseligkeit eingepflanzt. Vielfalt kann und sollte man als Bereicherung und nicht als Verdammung ansehen. Manchmal fällt es uns jedoch schwer, Menschen zu verstehen, die aus einer anderen geistigen Gemeinschaft, einem anderen Kulturkreis stammen, die eine andere Sprachen sprechen und eine andere Religion haben. Aus solchem Mangel an gegenseitigem Verständnis gehen häufig Konflikte hervor. Die Geschichte des großen Altars am Jordan zeigt auf, wie man solche Konflikte lösen kann, nämlich durch Verständnis und die Bereitschaft zu Gesprächen. Ein gelöster Konflikt kann ein herrliches Denkmal für spätere Generationen werden. Ein solches Denkmal kann zeigen, dass eine Verständigung über Grenzen hinaus möglich ist und in der Reichweite gewöhnlicher Menschen liegt. Die Söhne Rubens und Gads gaben ihrem großen Altar einen Namen; sie nannten ihn ED – „Zeuge”. Dieses hebräische Wort hat eine sehr interessante Struktur. Es besteht aus zwei Buchstaben: „ain”, was im Hebräischen „Auge” bedeutet und den Wert 70 hat und „daleth”, dem hebräische Wort für „Tür” mit dem Wert 4. Diese beiden Buchstaben und ihre Bedeutungen erinnern an einen altertümlichen Gerichtsprozess, der damals in einem „Tor” stattfand – daher „daleth” für „Tür”. Es erinnert auch an die Grundlage der Gerechtigkeit, die immer die Aussage eines „Augenzeugen” bildete – daher „ain” für „Auge”. Auch die numerischen Werte dieser beiden Buchstaben haben eine interessante geistige Bedeutung. Sie sind beide auf ihren Ebenen Symbole der höchsten Vielfalt. Die Zeit lässt es nicht zu, dass wir dieses Thema vertiefen. Diejenigen, die sich dafür interessieren, möchte ich auf die Schriften Heinrich Weinrebes verweisen, der unter anderem im Buch „Der Göttliche Bauplan der Welt” über das Wort ED schreibt. (Ss.161, 162) Ich möchte nur das Ergebnis seiner Überlegungen nennen. Das Wort ED steht für die Grenze und für die höchste Stufe der Vielfalt. Die Geschichte des Altars, der diesen Namen trägt, sollte uns helfen, uns bewusst zu machen, dass in der uns umgebenden Welt positiver geistiger Werte eine von Gott zugelassene und die Grenzen der Wahrheit nicht sprengende Vielfalt herrscht. Es gibt Haltungen und Theorien, die von Grund auf falsch sind. Wir sollten sie bekämpfen und uns von ihnen fernhalten. Es gibt jedoch Grenzen, die lediglich Trennungslinien zwischen verschiedenen Auffassungen von der Wahrheit und dem Guten bilden. Solche Grenzen sollten verbinden. Die jenseits solcher Grenzen liegenden Gebiete sollten als eine bereichernde Vielfalt, und nicht als eine zu bekämpfende Verdammung, betrachtet werden. An solchen Grenzen sollten wir Zeugnisaltäre – ED-Altäre – aufstellen, die bedeuten: Ich habe es gesehen, verstanden, akzeptiert und möglicherweise sogar zu mögen gelernt. Wenn wir manchmal den Eindruck haben, dass falsche Tendenzen in unsere Überzeugungen oder unsere Gemeinschaft eindringen und bekämpft werden müssten, sollten wir uns zunächst fragen, ob wir in unserem Kampf nicht gegen Geschwister vorgehen würden. Wir sollten sichergehen, dass unsere edlen Absichten nicht von Satan, der nicht nur Vater der Lüge, sondern auch des Hasses und des Streits ist, ausgenutzt werden können. Wir sollten von den Lehren vom Verständnis und vom Streben nach Frieden, die uns die Führer des altertümlichen Israels gegeben haben, profitieren. Möge ihr Altar ED, möglichst oft Zeuge unserer moderner Versöhnungen werden, so dass wir Gott einheitlich, über die Grenze der Vielfalt hinaus, loben können. Amen. Daniel Kaleta |