Ludwigshafen, Sonntag, 4 April 2004

Abendmahlbetrachtung 2004

Der Abend draußen bricht schnell herein. Der Abend in Jerusalem bricht noch schneller herein. Um diese Jahreszeit, um diese Tageszeit, am heutigen, besonderen Tag eilen wir mit unseren Gedanken nach Jerusalem, in die heilige Stadt von weißen Mauern, vergoldet mit dem Glanz des Sonnenuntergangs, in die Stadt deren Herodianische Gebäude dazu gebaut worden sind um von den Römern vernichtet zu werden, bis kein Stein auf dem anderen gelassen wird.

14 Nisan. Das Lamm ist vorbereitet, das Abendmahl gedeckt. Auf dem Tisch liegt Brot, Wein und die Soße aus den bitteren Kräutern. Feierlich aber irgendwie traurig. Jerusalem, nach dem sich die Pilger so viele Monate gesehnt haben, hat sie noch vor ein paar Tagen triumphierend begrüßt, aber die Tränen in den Augen des Meisters haben diesen Enthusiasmus des Volkes nicht widerspiegelt: „Wenn auch du an diesem Tag erkannt hättest, was zu deinem Frieden dient!” (Lk 19:42). Unter dem Volk – verbissene Gesichter der feigen Feinde, die sich hinterm Rücken der bewaffneten Diener und heimlichen Verräter verstecken. Jesus sieht sie, er hört die Stimme der verärgerten Herzen. Sein Antwort ist genauso unerbittlich: „Ich sage euch, wenn diese schweigen, so werden die Steine schreien.” (Lk 19:40). Ob ihre steinernen Herzen irgendwann einmal rufen werden: „Hosanna dem Sohn Davids!”, Sohn Davids, errette uns? Wie viele Steine müssen noch gegen die Göttliche Liebe geworfen werden, bis die versteinerten Herzen fleischlich und weich werden um zu rufen: „Gepriesen sei du, der da kommst im Namen des Herrn”?

Die Gefühle, die den neusten triumphierende Eingang nach Jerusalem begleiteten, verschwanden wie Morgennebel im Tal Hinnom. Statt dessen schlich sich die Angst langsam in die Herzen ein. In der abnehmenden Seele des einen von ihnen hat sogar Verrat und Besessenheit Platz gefunden. Manche von ihnen, des Wortes Jesu nicht gedenkend, streiten immer noch um die Stellungen in der zukünftigen Ehre des Königreiches des Meisters. Immer noch dauern die Verhandlungen, wer sich auf der rechten Seite Jesu am Tisch hinlegen wird, und wer seinen Kopf an der Brust des Meisters stützen wird. Keiner will nachgeben. Jede möchte am nächsten des Zentrums des Geschehen sein, am nächsten dem Baum des Lebens und am nächsten dem Baum der Erkenntnis. Jeder bewacht sein vorher besetzten Platz mit Aufregung.

Und unterdessen...

Der Meister... steht auf vom Abendmahl, er legt die Oberkleider ab, nimmt das Wasser und das leinene Tuch und fängt in Demut zu unterweisen. Er lehrt immer noch, bis zum letzten Atemzug hört er nicht auf, seine Jünger zu unterweisen, in Liebe, in Frieden und in Leiden, die Drei, die das menschliche Denkvermögen übertreffen. Die Liebe, die ohne Rücksicht auf Anstoß gerne die Salbung mit Tränen von eine dankbaren Zuhörerin nimmt. Der Frieden, der aus dem Machtgefühl herauswachsend, in einem sinkenden Boot schlafen lässt. Das Leiden, welches heilt und die müde Stirn mit den schmerzenden Dornen schmückt. Er lehrt von Sünde, von Gerechtigkeit und vom Gericht. Der Meister über alles. Menschlich bis zur Grenze des Schmerzes und herrlich bis zur Grenze der Demut. Der Meister besorgt, der Meister traurig, der Meister bis zum letzten Moment das Gute seiner Nächsten suchend: des jugendlichen und noch nicht reifen Johannes, des mutigen und zur Handlung bereiten Simon Petrus, des strengen Andreas, des ernsten Jakobus, des achtsamen Matthäus, des tiefgründigen Thomas, des anständigen Bartholomäus, des klugen Philippus, des familiären Jakobus, des jüdischen Juda, des Eiferer Simon von Kana und des ängstlichen Judas.

Jeder von ihnen hat zum Tisch des feierlichen Abendmahls seine Erwartungen, Befürchtungen und Spannungen mitgebracht. Jeder von ihnen ist immer noch er selbst, aber langsam auch ein Teil von einem Körper, einem Brot, das den ganzen Leib ernährt. Jeder von ihnen ist schon bereit, aber immer noch auf die volle Erscheinung der Macht Christi wartend. Jeder von ihnen – zukünftiges Kleinod in der Krone des Meisters, schmückendes Fundament des Neuen Jerusalems. Aber heute noch beobachten sie Ihn und sein Leiden mit eigenen, menschlichen Augen.

Johannes – mit dem Kopf an der Brust Jesu erfährt er alles am schnellsten. Sein Gedanke, jung und schnell wie ein Vogel, folgt sofort dem Blick des Meisters. Das Herz, neugierig und voll von Gefühlen, saugt wie ein Schwamm jedes Wort, auch das schwierigste und unfassbarste. Seine Augen, breit offen wie die zwei grünen Smaragden, durchdringen ohne Mühe das Halbdunkel des nicht genug beleuchteten Saales. Sie sehen die Nervosität des Judas und die Ruhe des Meisters. Die Ohren hören die leise Frage des älteren Freundes: Frag ihn, wer wird ihn verraten, von wem hat er gesprochen. Unterbewußt fühlt er, wie die schnelle, zornige Hand des Petrus fest nach dem Griff des unter dem Kleid versteckten Schwertes greift. Johannes – zarter Jüngling, mutig und empfindlich, voll der jungfräulichen Liebe zum geliebten Meister. Johannes – Jünger der am nächsten des Herzens Jesu ist.

Judas – in sich verschlossen, zusammengewickelt wie ein Igel, vorbereitet auf einen Angriff, in jedem Moment bereit zu flüchten. In der Tiefe seiner Seele brennt eine Flamme des Zweifels und der Besessenheit. „Bin ich's Herr” – fragte er wie die anderen, aber der Blick des Meisters und sein ausgestreckter Arm waren wie ein Urteil. Er weiß, er weiß alles. Was macht er jetzt, wird er allen sagen, wird der Meister ihn verraten so wie er den Meister verraten hat? Wird er dem Petrus sagen, und der? wird er sein Schwert ziehen und im den Kopf abschneiden. Dieser Hitzkopf ist zu allem fähig. Feurige Blicke hin und her, Panik, immer größere Geräusche in den Ohren, und plötzlich diese Worte, wie ein Schnitt einer Sichel, wie ein Peitschenknall: „Was du tust, tu schnell”. Er zögerte nicht ein Moment. Er hat sich gegürtet, hat leise die Tür hinter sich zugemacht und ohne sich umzudrehen, ist er in die Finsternis gegangen.

Petrus – versteckt hinterm Rücken des Meisters. Als ob nah, an der Rechten Jesu, aber das geliebte Gesicht wandte sich eher öfter in Richtung der linken Hand, auf welcher sie sich auch in längeren Zeitabschnitten des Schweigens und Traurigkeit stützte. Seine Hand unter dem Mantelschoß versteckt, drückte nervös den Griff des Schwertes. Was sollen wir noch viel reden. Laßt uns was unternehmen. Wenn es sein muß, dann werden wir auch kämpfen. Er hat sich gut hinterm Rücken des Meisters gefühlt, bereit ihn zu verteidigen, bereit ihm zu folgen, sogar bis in den Tod. O nein, Herr, dies wird dir keinesfalls widerfahren. Das ist ausgeschlossen. Wir möchten, dass du lebst, für uns und mit uns. Wir möchten leben, wir möchten handeln, und nicht sterben. Gott hat uns zum Leben und zum Tun berufen und nicht zum Tod. Eine lebendige Fliege ist mehr wert als ein toter Löwe. O nein, Herr, dies wird dir keinesfalls widerfahren. Und der Hahn? Der kann krähen so viel mal, wie er nur will.

Simon der Eiferer – schaute sein Namensbruder mit Bewunderung an. Er würde auch gerne das zweite Schwert ziehen. Vielleicht ist gerade jetzt ein richtiger Moment gekommen um etwas zu unternehmen. Vielleicht wird Jeschua HaMaschijah diese Nacht seine wunderbare Macht ergreifen, Herodes stürzen, und einen Aufstand hervorrufen um die Römer zu vertreiben. „Herr, stellst du in dieser Zeit für Israel das Reich wieder her?”

Jakobus – blickte sein Vetter über die ganze Länge des Saales an. Nach dem Hinausgang des Judas, ist es auf seinem Tischende lockerer geworden. Wohin hat er ihn geschickt? Wer ist wirklich Jeschua ben Miriam? Er hat sich in den letzten Jahren so stark geändert. Jakobus dachte an gemeinsame Kinderspiele, jugendliche Gespräche und zusammen geleistete Arbeit. Heute hatte er den Eindruck, dass er gegenüber einem fremden Menschen sitzt. Er hat ihn nicht gekannt, durch so viele Jahre, hat er ihn nicht kennen gelernt. Er hat ihn von Kindheit an gekannt und jetzt ist sein Bruder ein großer Rabbi und verfolgter Verbrecher in einer Person geworden. Als er zu heilen anfing, ist die Volksmenge ihm gefolgt. Warum hat er die Pharisäer und Schriftgelehrten geärgert? Er wird wie Johanan enden, im Gefängnis oder gar im Grab. Wie wird es Miriam ertragen? Wer wird sich um sie kümmern? Wer bist du mein Bruder, wer bist du?

Andreas – wie immer schweigend und ruhig. Wie abwesend, und trotzdem unauffällig und mit Aufmerksamkeit dem Lauf des Geschehens folgend. Hinter dem Rücken des Bruders hörte und sah er fast immer und fast alles, aber geredet hat er nie als erster. Er beantwortete die Fragen aber er selber würde eher selten die Fragen stellen. Sein Bruder hat es immer besser gewußt.

Judas-Thadäus – „Herr, wie kommt es, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt?” (Joh. 14:22) Wir haben dich schon erkannt, wir haben deinetwegen alles verlassen, unsere Häuser, Familien, sogar unsere alten Namen. Unser Leben hat sich so geändert. Brauchen wir wirklich, dass du dich uns noch offenbarst? Warum willst du dich der Welt nicht offenbaren? Warum willst du deine Wunderbare Macht nicht den Priestern, Königen und Kaisern demonstrieren. Du könntest doch! In Kraft und Angst müssten wir das vom Fleisch befleckte Kleid hassen! Wir sind rein, lasst uns das Volk reinigen.

Jakobus Sohn des Zebedeäus – ernst und traurig schaute er zur Seite. Der ältere Bruder von dem jüngeren Johannes. Pfleger des Jünglings. Wie viel mal hat Maria, Marias Schwester ihn gewarnt, dass er auf den Jüngling gut aufpassen soll. Es war aber nicht möglich ihn aufzuhalten. Bevor du dich umdrehst, ist er schon der Stimme des Herzens gefolgt, die schneller war als der Blick des älteren Bruders. Manchmal konnte diese Energie von Johannes auch das ruhigere Temperament des Jakobus erhitzen. So wie damals, als die beiden bereit waren das Feuer auf die heidnische Stadt herabkommen zu lassen. Aber heute ist keine gute Zeit für Blitze. Heute ist der Tag der Stille, der Tag der Traurigkeit, der Tag des Schlachtens der Lämmer.

Levi-Matthäus – konzentriert und mit Aufmerksamkeit horchte er nach jedem Wort des Meisters. Er spürte, dass seine Begabung, die Gefühle der Nächsten durchzudringen, sein gutes Gedächtnis und seine Schreibkenntnisse beim gedenken der Botschaft Jesu nützlich werden. Nicht alles hat er verstanden, aber für alle Fälle hat er sich auch das gemerkt, was er nicht unbedingt verstanden hat. Sein Beamten Verstand, konstruiert zur Maßhaltung und seine Neigung zur Demut, die den bekehrten Sünder bezeichnet, bewegten ihn auch sich das zu merken, was gerade jetzt noch den Menschlichen Verstand übertraf.

Natanael – ein bisschen misstrauisch aber ruhig. Er weiß, dass das Auge, das ihn im Versteck unter dem Feigenbaum sah, ihn auch jetzt nicht aus dem Sichtfeld verlieren wird, hier wo sie im engen Raum am Tisch sitzen. Außerdem hatte er nichts zu verstecken. Fromm und gerecht – alle haben ihn so gekannt. Er wartete bis der, der versprochen hat, ihm endlich die Engel, die aus dem Himmel Jakobs Verheißung niederkommen, sehen läßt.

Philippus – der Mann von durchdringendem Geist, voll von mannigfaltigem Verstand. Früher schien ihm, dass er Jesus verstand. Er war derjenige, den Jesus fragte, wenn die Frage für die anderen zu schwer war: „Philippus: Woher sollen wir Brote kaufen, daß diese essen?” (Joh. 6:5). Er konnte schnell ausrechnen, wie viele Menschen sie mit dem Brot ernähren könnten, das sie für das Geld aus dem Beutel Judas kaufen würden. Als die Griechen mit Jesus sprechen wollten, hat er sie zu ihm gebracht. Aber heute waren auch seine Augen voller Fragezeichen. So gerne würde er den Vater Jesu sehen, so gerne würde er das Leben und den Tod Jesu verstehen.

Thomas Didymos, auch Zwilling genannt – irgendwie immer gespaltet. Thomas – gläubig aber eindringlich. Er glaubt das, was er sieht, und was er nicht sieht, kann er bis auf kleinste Details auseinander nehmen. Wenn er sich aber überzeugt, dass die Sache richtig ist, ist er bereit sogar ins Grab zu gehen. So wie damals, als sie nach Jerusalem ziehen sollten, wo der sichere Tod sie erwartete, sagte er: „Laßt auch uns gehen, daß wir mit ihm sterben.” (Joh. 11:16).

Die Zwölf am Tisch. Einer in Dunkelheit und ein freier Platz von ihm verlassen. Wer wird ihn übernehmen. Vielleicht würde sich jemand von uns gerne an den Tisch setzen, auf diesen oder auch anderen Platz. Am Tisch des Herrn sind noch freie Plätze. Er lädt uns ein, dich und mich, damit wir uns an den Tisch setzen und zusammen mit ihm feiern. Er hat sich umgürtet und bedient uns. Er wäscht unsere Füße, er reicht uns das Brot mit bitteren Kräutern der Traurigkeit und des Leidens, und trockenen Wein. Oh ja, wir möchten gerne mit dem Herrn an seinem Tisch sitzen. Wer von uns aber möchte, dass der Herr leidet, dass auch wir mit ihm leiden? Aus der Tiefe des Herzens reißt sich Petrus Ruf heraus: „HERR, schone dein selbst; das widerfahre dir nur nicht!” (Mt 16:22), das widerfahre MIR nur nicht. Ich will nicht krank, hungrig, traurig sein und ausgelacht werden. Also sei du es auch nicht. Aber der Meister neigt nur schweigend sein Kopf und widerspricht der Versuchung des Satans, für sich selbst und für uns. Das Leiden ist ihm widerfahren und wird auch uns widerfahren. Wir widersprechen jeder Reaktion der Abneigung gegenüber den Leiden als Versuchung des Satans. Herr, wenn es dein Wille ist, werde ich den Kelch trinken.

Wie wenig erfahren wir in unserem Leben von Leiden, Hunger oder Verfolgungen. Wir kennen keine Armut, Krieg oder Naturkatastrophen. Vielleicht bedrücken nur manchmal Krankheiten unser Adamisches Fleisch. Jesus, ist das alles widerfahren, er wurde von keinen Leiden verschont, nicht von Hunger, nicht von physischer Erschöpfung, nicht von Verfolgung, Verachtung und Einsamkeit. Er hat den Kelch bis auf den Grund geleert, für mich und für dich, unserer Sünde wegen, um uns zu reinigen und zu erretten.

Am Tisch des Herrn gibt es noch freie Plätze. Wo würden wir gerne sitzen? Neben dem gefühlvollen Johannes oder dem energischen Petrus? Neben dem nüchternen Jakobus oder dem in Träumen versunkenen Thadäus. Neben dem eindringlichen Thomas oder dem aufmerksamen Matthäus. Jeder von uns hat einen gewählten Platz. Wir meiden nur einen, den von Judas verlassenen Platz. Keiner von uns möchte auf dem Thron des verworfenen Verräters sitzen. Aber außer dem einen, sind alle andere Plätze gut.

Herr, wir möchten nah bei dir sitzen, wir möchten uns zu deinen Füßen setzen, oder wenigstens in den Vorhöfen deiner Hoffnungen. Wir sind zu deinem Tisch gekommen, weil wir dich lieben, weil wir dein Leiden hochschätzen. Es tut uns leid wegen deiner Wunden und schrecklicher Schmerzen, die du unseretwillen leiden mußtest. Meinetwillen. Herr, wir müssen nicht an deiner Rechten oder Linken sitzen, uns reicht sich zu deinen Füßen setzen zu dürfen, sie mit unseren Tränen zu benetzen und sie mit den Haaren unserer Köpfe zu trocknen. Wir haben keine kostbaren Salben, nimm unsere Träne als die kostbarsten Kleinoden. Herr, wir sitzen an deinen Füßen, nimm uns und gib uns von deinem Brot, Brot des Lebens und Brot des Leidens. Wir wissen, dass das Leben mit dir nicht leicht, aber schön und edel ist. Darum gib uns von deinem Brot damit wir nimmermehr hungern. Gib uns von deinem Roten Getränk, damit wir nimmermehr dürsten.

Möge die Macht deines Leidens unsere sterblichen Leiber lebendig machen, sie zum lebendigen Tempel des Geistes umwandeln, damit wir nimmermehr ein anderes Feuer, Speise und Getränk suchen. Dein Fleisch ist wahrlich eine rechte Speise, und dein Blut ist der rechte Trank. Fest entschlossen, wie Petrus, bis zur ersten Schläfrigkeit, bis zum dritten Krähen des Hahnes, nehmen wir aus deiner Hand Brot und Wein, weil es für uns keinen anderen Tisch gibt. Herr gib uns von deinem Brot, schenke uns von deinem Wein ein.

Daniel Kaleta