Korbach, 8. Juni 2003

Glückselig die Armen im Geist

Liebe Geschwister,

wir wohnen in einem der reichstem Länder Europas und der Welt. Unter uns sind auch Geschwister aus den Vereinigten Staaten, aus England und Frankreich. Das sind auch keine armen Länder. Aber in den letzten Paar Jahren haben wir uns alle ein bisschen ärmer gefühlt. Überall spüren wir die Folgen der Sparmaßnahmen des Staates, der Firmen und auch individuell müssen wir sparen. Viele von unseren Privilegien, die wir manchmal jahrelang genossen, sind verloren gegangen. Viele von uns verdienen effektiv weniger, als früher, manche haben Arbeitsplätze verloren. Freuen wir uns darüber?

Natürlich nicht! In der menschlichen Natur – so hat uns Gott geschaffen – liegt eine Tendenz, unsere Lage verbessern zu wollen. Wirtschaftliche Stagnation, Mangel an Wachstum, empfinden wir als Regression, als Rückschritt, weil unsere Erwartungen im Laufe der Zeit wachsen. Wir gewöhnen uns schnell an den erlangten Wohlstand und unterbewusst erwarten wir, dass immer eine Entwicklung stattfindet. Nach einiger Zeit stellen wir fest, daß die Wirklichkeit hinter unseren Erwartungen zurückbleibt, was wir als eine Verschlechterung unserer Lage empfinden.

Wir stellen also fest, daß wir ärmer geworden sind und dass wir uns darüber überhaupt nicht freuen.

Und nun eine andere Herangehensweise. Möchten wir glücklich sein? Selbstverständlich, möchten wir das! Jeder wünscht es sich, glücklich zu sein. Gott hat im Menschen ein Streben nach Glück programmiert. Gott hat den Menschen auch Bedingungen zum Leben in Wonne und Glück versichert. Der Garten, in welchem Gott den Menschen unterbrachte, hieß Eden, auf Hebräisch „Wonne”. Der Schöpfer hat den Menschen zum Leben in Wonne vorbestimmt.

Wir möchten also glücklich sein, wir streben nach Glück. Wir wünschen auch anderen Menschen Glück. Bei verschiedenen Anlässen sprechen wir Glückwünsche unseren Bekannten gegenüber aus. Stellen wir uns aber vor, was jemand sagen würde, wenn wir ihm zum Geburtstag oder zu einem anderen Anlass sagten: Ich wünsche dir viel Glück, ich wünsche dir, dass du arm, traurig, hungrig und krank bist. Wer von uns möchte einen solchen Glückwunsch bekommen? Wir wollen lesen, welche Art von Glück uns unser Meister, der Herr Jesus wünscht.

Aus dem Lukasevangelium: (Lk. 6:20-23)

„Und er erhob seine Augen zu seinen Jüngern und sprach:
Glückselig ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes.
21 Glückselig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden.
Glückselig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.
22 Glückselig seid ihr, wenn die Menschen euch hassen werden und wenn sie euch absondern und schmähen und euren Namen als böse verwerfen werden um des Sohnes des Menschen willen.
23 Freut euch an jenem Tag und hüpft! Denn siehe, euer Lohn ist groß in dem Himmel;”

Und aus dem Mattheusevangelium: (Mt. 5:1-12)

„Als er aber die Volksmengen sah, stieg er auf den Berg; und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. 2 Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:
3 Glückselig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel.
4 Glückselig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.
5 Glückselig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben.
6 Glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden.
7 Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit widerfahren.
8 Glückselig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.
9 Glückselig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen.
10 Glückselig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten, denn ihrer ist das Reich der Himmel. 11 Glückselig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles Böse lügnerisch gegen euch reden werden um meinetwillen. 12 Freut euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß in den Himmeln;”

Wir möchten heute nur von einer Seligpreisung Jesus sprechen: „Glückselig die Armen im Geist”. Wir haben aber den ganzen Kontext nach Matthäus und Lukas gelesen, um allgemeine Richtlinien in der Lehre unseres Meisters zu erkennen.

Der Lukasbericht beinhaltet nur vier Seligpreisungen: gegen den Zustand der Armut, des Hungers, der Traurigkeit und der Verfolgung. Alle diese Zustände sind kaum abhängig von der Person, die ihnen ausgesetzt ist. Wir haben ja festgestellt, dass kein Mensch arm, hungrig oder traurig sein will. Es sind die Lebensumstände und die anderen Menschen, die es verursachen, dass man sich in einem solchen Zustand befindet.

Ein bisschen anders sieht es im Matthäusbericht aus. Außer den vier oben genannten Zuständen haben wir dort vier Seligpreisungen für die Sanftmütigen, Barmherzigen, für die, die reinen Herzens sind und für die Friedensstifter. Das sind Charaktereigenschaften, nach welchen man streben kann und soll, welche man erlangen muss. Ähnlich werden von Matthäus auch die vier anderen Seligpreisungen aufgefasst, die wir schon aus dem Lukasbericht kennen. Die Armen sind nicht mehr nur materiell, sondern auch geistig arm. Die Hungrigen hungern und dürsten viel mehr nach der Gerechtigkeit als nach Brot und Wasser. Wir bemerken diese Veränderung und stellen fest, dass nach dieser Auffassung Armut oder Hunger mehr als Streben als ein Zustand verstanden werden sollte. Hier geht es mehr um den Geist als um das Fleisch.

Lasst uns zusammenfassen: Entgegen den natürlichen Erwartungen der Menschen sagt unser Herr Jesus, dass Armut, Traurigkeit, Hunger und Verfolgung gesegnete Zustände für seine Nachfolger sind. Sie stehen im Gegensatz zu den verurteilten Zuständen des Reichtums, Überflusses, der Wollust und des Ruhms, die auch Lukas erwähnt.

Um zu unserem Thema zu kommen sagen wir, dass Jesus den Zustand der Armut, sowohl auf geistiger als auch auf materieller Ebene lobte und uns gleichzeitig empfahl, nach Armut, ebenso materiell wie auch geistig zu streben. Jesus lehrt uns, dass derjenige, der arm ist, glücklich ist und sich auch glücklich fühlen sollte. Er sollte auch gleichzeitig nach noch größerem Glück streben, das erlangt werden kann durch noch größere Armut, sowie auch durch die Erreichung der anderen Zustände und Entwicklung der anderen Eigenschaften, die in den Seligpreisungen erwähnt werden.

Ich schaue mich um. Ihr seht gut aus. Ihr seid gut gekleidet. Manche sind vielleicht von Krankheit oder Alter bedrückt, aber niemand scheint unterernährt zu sein. Sind wir reich? Reichtum ist relativ. Vielleicht würden unsere Freunde aus ärmeren Ländern „ja” sagen. Aber fühlen wir uns reich? Ich glaube, nicht. Ich mindestens fühle mich nicht reich in materieller Hinsicht. Und ich bin überzeugt, dass eine große Mehrheit der hier sitzenden, wenn nicht sogar alle, sich auch nicht reich fühlt. Und es ist gut so. Es bedeutet nämlich, dass wir von der folgenden Drohung Jesu nicht betroffen sind: „Wehe euch Reichen” – Lk 6:24. Ach, hätte Herr Jesus gesagt: Glückselig, die nicht reich sind. Wir würden alle sofort den Segen über uns fühlen. Aber Jesus sagte: „Glückselig ihr Armen”. Sind wir also arm?

Schauen wir auf die materielle Seite. Manche von uns sind arbeitslos, andere bekommen minimale Renten, die kaum ausreichen, um notwendige Sachen zu bezahlen, noch andere haben große Familien zu ernähren. Bekommen wir automatisch die von Jesus versprochene Segnung, wenn wir uns in einer materiellen Notlage befinden? Intuitiv empfinden wir, dass es nicht unbedingt immer der Fall ist, da es auch Arme gibt, die schlechte Menschen oder sogar Verbrecher sind. Es fällt schwer, sie als gesegnet anzusehen. Andere genießen einen gewissen Wohlstand. Sie haben keine materiellen Sorgen. Sollen sie auf ihren Wohlstand verzichten? Ihre Häuser, ihren Besitz verkaufen, ihr Vermögen für karitative Hilfe spenden? Was können die, die vielleicht nicht reich, aber wohlhabend sind, tun um von der Seligpreisung der Armut zu profitieren?

Schauen wir jetzt auf die geistige Ebene. Wir sind hier nicht viele, vielleicht nicht einmal hundert Personen. In der erstbesten Kirche um die Ecke sitzen jetzt viel mehr Gläubige. Unsere Aktivitäten sind sehr gering, wir haben keine großen Evangelisierungserfolge. Wir sind eine wenig bedeutende Bewegung, ein fast unsichtbares Pünktchen auf der Karte des Christentums. So gesehen sind wir arm. Aber andererseits sind wir überzeugt, dass wir die schönste Wahrheit haben. Ist dass nicht wahr? Natürlich ist es so! Unsere Wahrheit, unser Verständnis von Gott, seinem Plan, der Bibel, der Botschaft seines Sohnes ist herrlich! Vielleicht nicht vollkommen, aber auf jeden Fall vollkommener als das, welches Bekenner anderer religiöser Bewegungen haben. Sind wir arm im Geist?

Lasst uns versuchen festzustellen, woraus der Zustand der Armut und das Streben nach der Armut praktisch bestehen – sowohl in materieller als auch in geistiger Hinsicht, so dass wir verstehen, wie wir von der Segnung Jesus profitieren können.

Die erste Etappe in Streben nach Armut ist das Verzichten auf Sachen, die wir nicht besitzen. Es mag vielleicht absurd klingen. Wie können wir auf etwas verzichten, was wir nicht haben? Was für einen Nutzen könnten wir davon haben? Aber überlegen wir einmal. Manchmal sind wir unzufrieden, wir beklagen uns. Ein wichtiger Bestandteil unserer Unzufriedenheit ist das Verlangen nach Sachen, die außerhalb unserer Möglichkeiten liegen. Manchmal bekommen wir sogar Möglichkeiten, solche Sachen zu bekommen, aber um gewisse Güter besitzen zu können, müssten wir viel Mühe, Aufmerksamkeit und Zeit dafür aufwenden. Wir können uns also das erwünschte Haus nicht kaufen, wir akzeptieren es, aber das Gefühl von Bedauern und Unzufriedenheit bleibt in uns. Unzufriedenheit führt manchmal zum Neid gegenüber denjenigen, die die von uns erwünschten Güter besitzen. Wir beklagen uns. Trotz der relativen Armut sind wir nicht arm im Geist, weil wir uns über unser Leben gegenüber anderen Menschen, und manchmal gegenüber Gott selbst beschweren, dass wir die unserer Meinung nach nötigen Güter nicht haben können. Deswegen ist die erste Etappe auf dem Weg zur Armut das Verzichten auf das, was wir nicht haben und wonach wir verlangen.

Diogenes von Sinope, Griechische Philosoph der nackt in der Tonne wohnte, sprach einmal zum großen Alexander, der damals die ganze Welt unter sich hatte: „Ich bin ein viel größerer Herr als du bist; denn ich habe mehr verschmäht, als du in Besitz genommen hast. Was du zu besitzen für groß achtest, das ist mir zu klein, es auch nur zu verschmähen.” 1 Der Christliche Denker, Eckehart, schrieb im Kommentar zu diesem Satz: „Der ist viel glücklicher, der alle Dinge entbehren kann und ihrer nicht bedarf, als wer alle Dinge mit Bedürfnis nach ihnen im Besitz hält.”

Es gibt viele unnötige Sachen, nach welchen wir verlangen, was uns schlaflos macht und der Freude beraubt, das zu genießen, was wir schon haben. Lasst uns deswegen bei der ersten Etappe des Strebens nach Armut auf die Sachen verzichten, die wir nicht haben.

Die zweite Etappe des Strebens nach Armut ist das Verzichten auf die Güter, die wir haben, aber nicht brauchen, ohne die wir auskommen könnten. Jeder Besitz, jedes Amt, jede angenommene Verpflichtung vergrößert unsere Bindung an die Welt der Materie, raubt uns Zeit und Aufmerksamkeit, die notwendig sind, um geistige Schätze zu pflegen. Es gibt auf dieser Welt viele guten, nützlichen und angenehmen Sachen; diese zu besitzen ist an sich nicht schlecht. Aber unsere Begrenztheit der Zeit und des Raums verpflichtet uns, Entscheidungen zu treffen: zwischen guten und besten Sachen zu wählen.

Lasst uns nicht gute Bücher lesen, sondern nur die besten. Lasst uns nicht die guten Stellen annehmen, sondern nur solche, die unsere wichtigsten Lebensbedürfnisse decken, aber unsere geistige Entwicklung nicht stören. Lasst uns nicht in zu viele weltlichen Dinge engagieren, selbst wenn sie gut und richtig sind. Lasst uns die ganze Aufmerksamkeit auf den Dienst lenken, den der Herr uns empfohlen hat. Oft erfordert es von uns konkreten Verzicht auf Güter, die wir entweder schon haben, oder haben könnten, aber unsere geistige Gesinnung sagt uns, dass wir sie nicht brauchen, oder dass wir ohne sie auskommen können. Wir müssten also auf sie verzichten können.

Jemand könnte fragen: Was ist schlimm daran, dass ich eine leichtere und besser bezahlte Arbeit habe? Gar nichts! Wenn sie dein geistiges Leben nicht stören wird. Lasst uns aber manchmal prüfen, ob wir überhaupt in der Lage dazu sind, auf kleinste Vergnügen, unwichtige Einkäufe zu verzichten, nicht weil es etwas schlechtes ist, sondern nur, weil es nicht das Beste ist, weil es da was besseres gibt, was ich in dieser Zeit oder für dieses Geld machen könnte. Versuchen wir ab und zu solche Entscheidung zu treffen, um festzustellen, ob wir in der Lage sind, Fortschritte hin zur zweiten Etappe des Strebens nach Armut zu machen.

Die dritte Etappe bedeutet einen Verzicht auf das, was richtig ist, was wir brauchen, aber eine andere Person braucht es mehr. Es ist ein Streben nach Armut, welches mit Weihung, Opfer verbunden ist. Wenn wir unseren materiellen Überfluss mit dem Nächsten teilen, tun wir das, was vollkommen richtig ist. Wenn wir aber in der Lage wären mit unserem Nächsten das zu teilen, woran es uns selbst mangelt, dann würden wir nach richtiger Größe streben, uns auf die Ebene des Opfers heben.

Wenn du allein nicht satt bist, aber deinem Nächsten die Hälfte deines letzten Brotes gibst, dann bist du ein Held. Erwartet Gott Heldentum von uns? Heldentum wird im Königreich Gottes kein Lebensprinzip sein. Und trotzdem musste der Sohn Gottes Heldentum erweisen. Er war bereit, eigenen Verlust zu erleiden, damit andere davon profitieren können. Wollen wir seine Nachfolger sein? Selbstverständlich wollen wir das! Also werden wir nicht versuchen, größer als unser Meister zu sein. Wenn er mit uns Armut geteilt hat, so wollen auch wir es mit unseren Freunden und Geschwistern tun.

Unsere menschliche Natur wird uns in solchen Situationen einflüstern, dass wir vor Allem die Pflicht haben, unsere Kinder zu ernähren und erst dann die Bettler auf der Straße. Es ist richtig. Aber oft fällt es uns im praktischen Leben schwer, die Grenzen unserer Bedürfnisse zu bestimmen. Die Reichen haben große Ausgaben, weil sie mehrere Häuser und Autos finanzieren müssen. Sie wollen in teuren Geschäften einkaufen und in exklusiven Restaurants essen. All das halten sie für erforderliche Bedürfnisse und deswegen haben sie bei hohem Einkommen manchmal auch hohe Schulden.

Auch auf unserem viel tieferen Niveau, kann es sich zeigen, dass es uns schwer fällt, zwischen dem Urlaub am Mittelmeer und finanzieller Unterstützung für einen armen Brüder zu wählen. Es wäre uns viel lieber, wenn wir beides machen könnten. Aber manchmal geht es nicht. Wären wir bereit, auf die uns zurecht zustehenden Güter zu verzichten, wenn es dadurch, und nur auf diese Weise, möglich wäre jemanden aus der Not zu helfen? Und was wäre, wenn wir auf existentielle Bedürfnisse wie Essen oder Kleidung verzichten müßten? Wenn wir unseren letzten Mantel dem Obdachlosen geben müßten? Gott verlangt von uns kein Heldentum. Aber beweisen wir uns manchmal selbst, dass wir, wenn es notwendig wäre, in der Lage wären den Nächsten zu helfen, auch durch eigene Entbehrungen.

Alle Etappen des Strebens nach Armut können wir auch auf die geistige Ebene übertragen. Wie oft bedauern wir, dass unsere Gemeinschaft so wenig zahlreich ist, dass wir keine große Aktivität haben, dass wir keine Evangelisierungserfolge haben. Wir sollten uns bemühen zu tun, was in unserer Macht ist. Wenn wir aber feststellen, dass die Ergebnisse unserer Bemühungen lange nicht unseren Vorstellungen entsprechen, so lasst uns nicht in Melancholie verfallen: „Und ich habe mich so bemüht! Ach, wenn die anderen wenigstens so viel wie ich gemacht hätten, wäre alles ganz anders.” Das ist kein Zustand der geistigen Armut. Auch hier müssen wir manchmal auf das, was wir nicht haben, verzichten.

Im Kontakt mit anderen Christen empfinden wir oft, dass wir viel höher stehen, dass wir reicher sind. Vielleicht tendieren wir sogar zu einer Art Verachtung gegen die „nominellen Christen”, die die Bibel lesen und so wenig davon verstehen. Es ist keine Einstellung der geistigen Armut. Der geistig Arme kann manchmal auch auf seine richtige Meinung verzichten. Er kann zuhören, er ist offen für die Argumente der anderen Seite, weil er die Nächsten genau so ernst nimmt wie sich selbst. Auch hier haben wir manchmal die Möglichkeit, auf unsere richtigen, aber nicht unbedingt einzig richtige Meinungen zu verzichten. In Kontakt mit Geschwister, die eine andere Meinung vertreten, haben wir am häufigsten Gelegenheit, unsere geistige Armut zu üben. Wir können sogar überzeugt sein, dass wir recht haben, aber das muss nicht unbedingt das endgültige und fundamentale Recht sein. Um unsere geistige Armut zu pflegen, sollten wir in der Lage sein, auf das Verlangen nach Anerkennung unserer richtigen Meinungen zu verzichten, weil „jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben” wird – Röm 14:12.

Herr Jesus hat einmal zu seine Aposteln gesagt: „Ein jeder, der Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Frau oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen verlassen hat, wird hundertfach empfangen und ewiges Leben erben” – Mt 19:29. Wenn wir diese Worte und die besprochenen Seligpreisungen Jesus lesen, könnten wir auf die Idee kommen, dass die Segnung der Armut vergänglich ist und in Zukunft mit Reichtum ersetzt wird. Ähnliches könnten wir auch von Traurigkeit, Hunger und Verfolgung sagen. Aber was tun wir mit der Sanftmut, der Barmherzigkeit, der Reinheit des Herzens und dem Friedensstiften? Sind sie auch vergänglich? Werden sie auch in Zukunft durch ihren Gegensätze ersetzt? Natürlich nicht!

Derjenige der verfolgt wird und sich in seinem Herzen sagt: „Warte nur bis das Königreich Gottes kommt, und ich werde dir zeigen, wer recht hatte”, verdient es nicht „glückselig” genannt zu werden. Wir könnten uns die Situation vorstellen, dass jemand seine Familie, sein Haus oder anderes Vermögen zurücklässt in der Hoffnung, dass die oben genannten Worte Jesus sich buchstäblich erfüllen und er hundert Familien, Häuser und ein Vielfaches an Vermögen bekommt. Ist so ein Mensch tatsächlich arm, wenn er auf diese Güter nur deswegen verzichtet, weil er glaubt, hundertmal mehr zu bekommen? Wer von uns würde nicht auf 10 Euro verzichten um tausend zu bekommen?

Segnung und Glückseligkeit, die aus Armut, Traurigkeit, Hunger oder Verfolgung erfolgen betreffen nicht ausschließlich die Zukunft. Selbstverständlich werden alle die nach den Hinweisen des Meisters leben im Königreich unermesslichen Reichtum der Gnade Gottes genießen. Aber auch jetzt sollten wir das Gefühl der Segnung und Glückseligkeit spüren, wenn wir uns in Lebensumständen befinden, die unangenehm für das Fleisch sind, dem Geist aber viel Segen bringen. Der Mensch kann sich nicht über Armut, Traurigkeit, Hunger und Verfolgung freuen. Das ist selbstverständlich. Aber das Gefühl der Kraft, die wir durch das Überwinden unserer Schwächen oder Leiden zu spüren bekommen, die Fähigkeit, unser Leid zu ertragen, kann schon eine Quelle der Zufriedenheit, des Vergnügens und sogar des Glücks sein. Ein Mensch, der einen Kampf gegen seine natürlichen Reaktionen der Empörung, der Abneigung, der Wut und der Rache aufnimmt, empfindet innere Zufriedenheit. Er bekommt gleich hundertmal mehr, als sein Verzicht betrug.

Lasst uns zum Abschluss ein Paar biblische Beispiele der Armut erwähnen. Das schönste und für uns unerreichbare Beispiel ist sicherlich unser Herr, Jesus Christus, „daß er, da er reich war, um euretwillen arm wurde, damit ihr durch seine Armut reich werdet” – 2 Kor 8:9. Seine irdische Armut war völlig freiwillig und beabsichtigt. Er sagte über sich selbst: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er das Haupt hinlege” – Mt 8:20. Jesus hatte kein Haus, weil es sein Wunsch war, weil er nicht in einem Haus leben wollte. Trotzdem lesen wir im Markusevangelium 1:45: „dass er nicht mehr öffentlich in die Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten, und sie kamen von allen Seiten zu ihm” weil die Volksmenge um das Haus drängte, in welchem er weilte. Weiter lesen wir dass er „in ein Haus kam. Und wieder kam eine Volksmenge zusammen, so dass sie nicht einmal Brot essen konnten” – Mk 3:20. Unter solchen Umständen bekommen die melancholischen Worte Jesus: „aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er das Haupt hinlege” einen etwas anderen Ausdruck. Der Herr ist für uns ein großes Beispiel der materiellen und geistigen Armut.

Apostel Paulus schrieb über sich selbst: „denn ich habe gelernt, mich [darin] zu begnügen, worin ich bin. Sowohl erniedrigt zu sein, weiß ich, als Überfluss zu haben, weiß ich; in jedes und in alles bin ich eingeweiht, sowohl satt zu sein als zu hungern, sowohl Überfluss zu haben als Mangel zu leiden” – Phil 4:11-12. An einer anderen Stelle schreibt er von seiner geistigen Armut: „Aber was auch immer mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust geachtet” – Phil 3:7. Der zwölfte Apostel Jesu ist für uns ein großes Beispiel, das uns zeigt, dass man Unbequemlichkeiten ertragen, Mangel leiden, und auf irdische Ehre verzichten soll, und all das dem Evangelium des Meister zu Ehren.

Das dritte Beispiel der Armut kommt aus dem Alten Testament, denn manchmal könnte es uns Christen scheinen, dass die Armut ausschließlich eine Idee des Neuen Testaments ist und dass das Gesetz, das vor zweieinhalb tausend Jahren auf dem Berg Sinai geoffenbart worden war, eher Wohlstand und Erfolg als den gesegneten Zustand der Armut lobte. Der Prophet Gottes, Jeremia, sagte über sich selbst: „Ich habe mein Haus verlassen, mein Erbteil verstoßen, ich habe den Liebling meiner Seele in die Hand seiner Feinde gegeben” – Jer 12:7. Wir haben von drei Stufen des Strebens nach Armut gesprochen: (1) Verzichten auf das, was wir nicht haben, (2) Verzichten auf das, was wir besitzen aber ohne was wir auskommen können und (3) Verzichten auf das, was wir brauchen. Jeremia sagt hier, dass er „den Liebling seiner Seele in die Hand seiner Feinde gegeben” hat. Es ist, so wie bei Jesus, die höchste Stufe der Opferliebe. Es ist nicht leicht, das eigene Haus zu verlassen, die eigene Bequemlichkeit unserer Kinder oder Freunde Willen zu opfern. Um so schwieriger ist es, all das zu verlassen und in die Hände der Feinde Gottes und der Feinde der eigenen Seele zu geben. Jeremia war auch in der Lage in der Konfrontation mit einem falschen Propheten, der mit Sicherheit Unrecht hatte, zu sagen: „Amen, so tue der HERR! Der HERR bestätige deine Worte” – Jer 28:6. Jeremia ist für uns eine großes Beispiel der materiellen und geistigen Armut.

Manchmal sagen wir von uns, dass wir alles was wir haben dem Herrn geschenkt haben. Wir sind arm geworden, wir besitzen nichts, weil alle unsere materiellen und geistigen Güter Eigentum Gottes geworden sind, der sie uns nur anvertraut hat, damit wir sie zur Ehre des Schöpfers und wahren Besitzers nutzen. Das ist eine herrliche und weise Wahrheit. Diese Wahrheit sollte aber sichtbaren Einfluss auf unsere Leben nehmen. Lasst uns also Gelegenheiten suchen, mit Freude auf das zu verzichten, was wir nicht haben. Lasst uns in diesem Jammertal der Welt ein Beispiel in Zufriedenheit und Freundlichkeit des Geistes sein. Lasst uns unseren irdischen und geistigen Besitz beobachten, um festzustellen, ob nicht etwas darunter ist, ohne das wir auskommen könnten, was aber die Verwaltung des Ewigen Schatzes des geistigen Lebens belastet. Lasst uns schließlich Möglichkeiten suchen, um ein kleines Bisschen der notwendigen materiellen und geistigen Güter dafür zu verwenden, etwas für unseren Freund, Bruder oder unsere Schwester zu tun. Lasst uns diese Möglichkeiten hoch schätzen, lasst uns sie nutzen, um materielle und geistige Armut zu praktizieren, um den versprochenen Segen unseres Herrn und Meister Jesus Christus zu bekommen: Glückselig ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes.

Daniel Kaleta

Przypisy

1 Josef Quint (Hg.), Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, Hanser, München 1963, Reden der Unterweisung, Kap. 23, S. 97