Tagesanbruch 1997Sieben Worte Christi am Kreuz„Denn sooft ihr dieses Brot eßt und den Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn” – 1 Kor. 11:26 Die Sonne geht allmählich unter. In wenigen Minuten beginnt nach dem jüdischen Kalender der 14 Tag des Monats Nisan – der Tag, an welchem die Israeliten Ägypten verließen. Im Andenken an dieses Ereignis sollte jedes Jahr jede jüdische Familie am 14 Tag des Monats Nisan ein Lamm töten. Dieses sollte von der gleichen Art sein, wie das Lamm, das einst ihre Erstgeborenen dem Tod von der Hand des Todesengels entriß. So starben also Jahr für Jahr Tausende von unschuldigen Lämmer für Sünden, die mit dem Blut der Tiere sowieso nicht reingewaschen werden konnten – bis derjenige kam, auf den Johannes der Täufer mit den Worten: „Dies ist das Lamm Gottes” deutete. Drei Jahre später erfüllten sich die prophetischen Worte Johannes. Am 14 Tag des Monats Nisan starb an der Stätte, die der HERR, Gott erwählt hat, das wahre Lamm, dessen Blut ein für allemal die Sünde der Welt wegnimmt. „Denn sooft ihr das Brot eßt...”. Wie oft gedachten die geistlichen Israeliten im Laufe der langen Jahrhunderte des Evangeliumszeitalters Jahr für Jahr dieser feierlichen und dennoch traurigen Stimmung des Obersaals? Wie oft haben wir in unserem erwachsenen, geweihten Leben diese Verse gelesen? Wie oft haben wir in der Stille des Passahabends nach dem Brot gegriffen und in das trockene Knistern des gebrochenen ungesäuerten Brotes hineingehört? Wie oft haben wir das Gelübde der Weihung erneuert und uns an den Tod des ewigen Lammes erinnert? Ist das nicht genug? Sollen wir noch einmal daran denken, trauern und uns fürchten? „Denn sooft ...”. Einmal reicht also nicht – ebensowenig zweimal, hundert oder tausendmal. Bis er kommt, um unser Leib in unverweslich verwandeln. „...verkündigt den Tod des Herrn”. Es gibt Geschichten, die wir – auch zum tausendsten Mal – gerne hören. Es sind meistens Geschichten, die wir selbst erlebt haben und selbst erzählen. Wir sind wie Kinder, die abends bitten, daß man ihnen eine Geschichte erzählt, am besten die alte Lieblingsgeschichte, die sie schon hundertmal gehört haben. Laßt uns wie Kinder sein. Wenn wir mit Christus am Kreuz waren, wenn wir mit Christus am Kreuz hängen, „durch die Taufe mit ihm begraben”, so sollten wir noch einmal dieselbe alte Geschichte, dieselbe ewige Melodie von Golgatha, dasselbe Lied des Todes und der Einsamkeit hören. Und es war gegen sechs Uhr. Die Sonne stand im Zenit. In der Hitze des Mittags schlugen auf dem Felsen Golgathas die römischen Soldaten das Eisen in die ausgetrockneten Arme und Beine des schuldlosen Verurteilten, damit der erschöpfte Körper nicht vom Holz abfällt, damit es weh tut, damit die Strafe strenger und die Freude des Pöbels größer ist. Es tat weh. Und im vollkommenen Körper war vielleicht auch der Schmerz vollkommener und noch schmerzhafter. Der himmlische Vater versteckte seine Augen in den Wolken, damit die Blitze des Feuers seiner Eifers die römischen Vollführer des Willens des jüdischen Sanhedrins nicht verbrennen. Dunkelheit verbreitete sich über die ganze Erde, bis zur neunten Stunde. Es waren wohl die längsten drei Stunden in der Geschichte des Weltalls. Drei Stunden – wieviele Lieder könnte man singen, was für eine wunderschöne Predigt halten, wieviele Gleichnisse, Wunder, Heilungen vollführen. Aber es waren Stunden der Dunkelheit und des Schweigens – „er tat seinen Mund nicht auf”. In den drei schwersten Stunden seines Daseins sprach Jesus siebenmal. Nur siebenmal? Vielleicht sollte man eher sagen: siebenmal – so oft?, wenn man auf den Schmerz, die Schwierigkeiten beim Atmen und den Durst Rücksicht nimmt. Man muß doch noch die Bitterkeit des Spottes, die Traurigkeit der Ausstoßung und das Drama des Mißverständnisses dazurechnen. Jesus lehrte dreieinhalb Jahre lang. Das Wort war das wichtigste Werkzeug seiner Mission. Das Wort, welches er aussprach strengte weder ihn noch die Zuhörer an, denn „er lehrte sie wie einer, der Volmacht hat”. Die letzte Predigt des Meisters war jedoch sehr kurz. Seine Aussagen dauerten insgesamt nicht länger als eine Minute und bestanden aus etwa 40 Wörtern. Wir wollen sie noch einmal zitieren. 1. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!” – Lk. 23:34 Interessant ist, daß drei von diesen Aussagen nur von Lukas festgehalten wurden – drei andere nur von Johannes. Matthäus und Markus hielten dagegen nur eine Aussage Jesus fest – diejenige, die sie alle gehört haben – „Eli, Eli, lema sabachthani”. Denn viele spotteten: „Der ruft den Elia, laßt uns sehen, ob Elia kommt, ihn zu retten!” Lukas nahm – wie aus seinem Evangelium folgt – unmittelbare Zeugen als Quellen seiner Informationen, unter anderem Maria, die Mutter Jesus. Wir wissen, daß sie nahe am Kreuz stand (Joh. 19:25). Sie konnte also die Worte Jesus hören und sie sich merken. Auch Johannes stand am Kreuz, darüber lesen wir in seinem Evangelium. Kennen die anderen Jünger die Ereignisse etwa nur vom Erzählen? Waren sie am Kreuz, oder schauten sie vielleicht nur von der Ferne zu, wie ihr Meister stirbt – vielleicht waren sie auch dafür nicht mutig genug. Wo war der tapfere Petrus mit seinem Schwert, wo war der vernünftige Matthäus, warum reichten sie ihrem Meister nicht den feuchten Schwamm, wo versteckten sie sich? „Also nicht eine Stunde konntet ihr mit mir wachen?” – nicht einmal zwanzig Stunden war es her, als er ihnen diese Frage stellte. Also konntet ihr auch jetzt nicht drei Stunden mit mir wachen? Wären wir dazu in der Lage? Wäre unser Mut größer als der Mut, den die Jünger aufbrachten? Oder war es vielleicht nur das junge Alter Johannes und die jugendliche Bravour die ihn verpflichtete, zusammen mit den Frauen am Kreuz zu stehen? Heute würden wir wahrscheinlich alle gerne am Kreuz stehen und dem Meister in den schwersten Momenten Mut zusprechen. Die Aposteln haben sich vielleicht auch oftmals den Mangel am Glauben vorgeworfen. Da war es jedoch zu spät, um mit einem freundlichen Wort den Schmerz des blutenden Herz des Meisters zu lindern. Vielleicht ist es auch jetzt – da er doch lebt, sich an diese Momente erinnert und weint – vielleicht ist es noch nicht zu spät, um durch unser Mitleid den Schmerz des blutenden Herzens zu lindern? Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Laßt uns leise an das Kreuz gehen und in die sieben Worte, die direkt aus dem liebevollsten Herzen des Weltalls fließen, hineinhören. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.”Es ist wahr, daß diese Worte in manchen alten Manuskripten nicht zu finden sind und andere diese als einen altertümlichen Nachtrag angeben. Vielleicht haben jedoch die Biblisten, welche diese Worte trotz allem, auch wenn nur in Klammern, immer in ihre Ausgaben des Buches Lukas aufnehmen, gute Gründe dafür. Diese Aussage wird im direkten Kontext des Kreuzigungsaktes gemacht. Der Akt der Kreuzigung wurde, wie Johannes angibt, von den römischen Soldaten ausgeführt. (Joh. 19:23) Vielleicht wurden diese Worte also direkt an sie gerichtet und nicht an die Juden, wie man manchmal meint. Wenn Jesus diese Worte wirklich ausgesprochen hat, dann bat er seinen Vater um Vergebung für die römischen Urteilsvollführer und nicht für die Juden, die wegen ihrer Sünden den Messias abgewiesen haben und ein ungerechtes Todesurteil über ihn gefällt haben. In etwas früheren Zeiten hatte der Henker die Angewohnheit, den Verurteilten um Vergebung zu bitten. Es war nicht der Henker, der die Verantwortung für das Urteil trug. Es waren nicht die römischen Soldaten, welche die Befehle Pilatus ausführten, die die Verantwortung für den Tod Jesus trugen. Einer von ihnen, ein Hauptmann, legte sogar ein schönes Zeugnis für Jesus ab: „Wirklich, dieser Mensch war gerecht”, und wurde später, der Tradition nach, ein Christ. Auf diese Weise wurde das Gebet Jesus erhört. Gott vergab einem Menschen, der Seinen Sohn gekreuzigt hat.
Einige Jahre später betete einer der treuen Nachfolger des Meisters im Leid, der erste Märtyrer der Kirche, Stephanus mit ähnlichen Worten: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu!”. Stephanus bat auch um Vergebung für seine Henker. Und wieder wurde das Gebet des sterbenden erhört. Der Anführer der Verfolgerbande, Saul von Tarsus, wurde später von Gott als Apostel von Jesus Christus angenommen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Apostel Paulus manchmal den bekehrten Hauptmann traf und sie zusammen Gott für die tapferen Gebete ihrer Opfer dankten. „Frau, siehe, dein Sohn! (...) Siehe, deine Mutter!”Johannes überliefert uns ein sehr wahrheitsgetreues Bild der letzten Lebenstage Jesus. Auch wenn er seine Person unter der Bezeichnung „jener Jünger, den Jesus liebte” versteckt, wissen wir alle, daß gerade er aktiv an den Ereignissen der letzten Tage der irdischen Mission Jesus teilnahm. Er war es auch, der sich zusammen mit den drei Frauen in der Nähe des Kreuzes befand, als dort nur noch die Soldaten ihre düstere Pflicht erfüllten. Die Mutter Jesus verließ ihn bis zur letzten Minute nicht. Und mit ihr war ihre Schwester, die ebenso den Namen Maria trug und Maria Magdalena, aus welcher Jesus sieben Dämonen vertrieb, Maria Magdalena, die ihn dafür so sehr geliebt hat. Diese drei Frauen begleitete ein Jüngling. Vielleicht war er es, der ihnen einen direkten Zugang zum Kreuz ermöglichte, so wie er vorher Petrus in den Hof des Hohepriesters führte. Sich dem Verurteilten so sehr zu nähern erforderte auch mit der Erlaubnis der Soldaten sicherlich sehr viel Mut. Die aufgewühlte Menge, die Jesus grundlos und so sehr haßte, konnte doch weniger verständnisvoll sein als die teilnahmslosen römischen Soldaten. Jesus schätzte den Mut seiner vier Freunde. Von der Höhe des Kreuzes sah er ihre schreckerfüllten Gesichter voller Tränen. Er hatte keine Kraft mehr, um sie zu trösten. Er selbst hat Trost gebraucht. Aber die Nähe der liebsten Personen gab ihm neue Kraft. Noch einmal strömte Seine große Liebe aus. Noch einmal kümmerte er sich um diejenigen, deren dasein so sehr von ihm abhängig war. Die Mutter Jesus war damals wahrscheinlich bereits eine Witwe. Jesus verstand sehr gut, wie traurig das Schicksal einer Witwe ist, die den einzigen Sohn verliert. Etwas früher zeigte er Verständnis dafür indem er den Sohn einer Witwe zum Leben erweckte. Jetzt konnte er es jedoch für seine Mutter nicht tun. Er konnte oder vielmehr: er wollte ihren Sohn nicht vom Tode bewahren. Er konnte auch das nicht tun, was der Engel für Abraham getan hat, als dieser nahe daran war, seinen Sohn zu töten. Es gab kein Lamm, welches hätte für ihn sterben können, denn er war das Lamm, welches die Sünde der Welt wegnahm. Aber Jesus fand immer einen Ausweg. Selbst in diesen letzten Momenten seines Lebens war er in der Lage, in seinem Herzen ein Gefühl zu finden, welches helfen konnte, den Schmerz des Mutterherzens zu lindern – wenn nicht jetzt, dann wenigstens in ein Paar Jahren, wenn die Wunde in ihrer Seele aufhören würde, so sehr zu bluten. Jesus gab seiner Mutter einen Sohn, der Ihn in seiner Pflicht, sich um die Mutter zu kümmern und sie zu lieben, vertreten konnte. Die Tradition sagt, daß Maria bis zum Ende ihres Lebens unter dem Schutz von Johannes war. Vielleicht war das der Grund, aus welchem Johannes so lange lebte, denn das Gebot sagte: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit deine Tage lange währen.” (2 Mo 20:12) „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein!”Vielleicht denken wir manchmal, daß in diesem Satz das Komma am wichtigsten ist. Laßt uns heute aber ausnahmsweise die Zeichensetzung vergessen. Neben Jesus wurden zu seiner linken und zu seiner rechten Seite zwei gewöhnliche Verbrecher gekreuzigt. Einer von ihnen schloß sich der Gruppe der Spötter und der Werkzeuge Satans an: „Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns!” Es war die letzte Versuchung Jesus. Satan wollte Jesus noch einmal von dem Gehorsam gegenüber Gott abbringen. Und Jesus hatte doch noch seine Macht, Gott hatte ihn noch nicht verlassen. Es standen noch Engel-Heerscharen mit blanken Feuerschwertwern für den Notfall bereit. Was für eine große innere Macht mußte dieser Mensch – Jesus Christus – haben, um keine äußere Macht anzuwenden – wenn schon nicht zur Verteidigung des eigenen Lebens, dann zumindest zur Bestrafung der Spötter. Und doch hat er es nicht getan – „Der, geschmäht, nicht wieder schmähte, (...) sondern sich dem übergab, der gerecht richtet” (1 Petr. 2:23). Jesus schätzte sehr das Verhalten des anderen Verbrechers, der Ihn verteidigte: „Wahrlich, du wirst mit mir im Paradies sein”. Bisher sprach er zu niemandem über das Paradies, über den Wiedereintritt der Vollkommenheit des Lebens auf die Erde. Seine Botschaft richtete er vorerst nur an seine Nachfolger, die, so wie er selbst, das Privileg des irdischen Lebens aufgeben sollten. Der büßende Verbrecher konnte jedoch kein Mitglied der Kirche werden. Er sollte noch vor dem Kommen des Heiligen Geistes, welcher das Zeugen der Neuen Natur gewährleistete, sterben. Aber auch für diesen Menschen hatte Jesus ein gutes Wort übrig: „Du wirst mit mir im Paradies sein”. Es ist mehr, als das zu sagen, was er zu Marta sagte: „Dein Bruder wird auferstehen.” Jesus wußte doch, daß die Wiederauferstehung allen Menschen zuteil werden wird, auch dem anderen Verbrecher, der über ihn spottete. Im Herzen des büßenden Verbrechers sah er mehr – er sah etwas, was den Weg zum Baum des ewigen Lebens für ihn öffnete. Dem büßenden Verbrecher verdanken wir die letzte Lehre Jesus über den Weg der Erlösung der Menschheit – einen anderen Weg, als der, den die Kirche geht. Wie man sieht, waren die drei angeführten Aussagen Jesus eine Weiterführung seiner Mission der Liebe und der Vergebung. Seine Aufmerksamkeit galt immernoch – auch unter unfaßbaren Qualen – seinen Nächstens. Er wandte seine Augen noch nicht von der leidenden Welt ab, und sein Leiden überdeckte nicht seine unermeßliche Liebe, die ihn seinen Schmerz vergessen und die Bedürfnisse und das Leiden anderer sehen ließ. Die vierte Aussage Jesus stellt aber einen Wendepunkt dar: „Eli, Eli, lema sabachthani!”„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Von der Höhe des Kreuzes erschallte mit einem gewaltigen Widerhall die schmerzerfüllte Frage des Sohnes. Es war mit Sicherheit der schwierigste Moment seines gesamten Daseins. Sein Freund hatte ihn verraten, seine Jünger hatten ihn verlassen, er hatte seine Mutter, die er dem treuen Johannes überließ, nicht mehr, und jetzt kam noch das schlimmste. Die Gewißheit des Kontaktes mit Gott war für Jesus während seines ganzen irdischen Lebens eine Quelle der Ruhe und des Glückes. Selbst die schlimmsten Verfolgungen konnten seine innere Ruhe nicht erschüttern. Er wußte: Auch wenn alle ihn verlassen sollten, sein himmlischer Vater würde immer bei ihm sein. Jedoch derjenige, „der in allem in gleicher Weise (wie wir) versucht worden ist ohne Sünde” mußte auch die traurigste Prüfung durchstehen – das Verlassenwerden von seinem Vater. Es scheint, als könne er von diesem Moment an, auch wenn er wollte, nicht mehr vom Kreuz absteigen, den Verbrecher retten, die Spötter sprachlos machen, die, da sie kein hebräisch konnten und Jesus Worte nicht verstanden, riefen: „Laßt uns sehen, ob Elia kommt, ihn herabzunehmen!” Sie wußten nicht einmal, daß sie über ihre eigene Dummheit lachen. Jesus war schwach und kraftlos. Seines inneren Zuflusses der außergewöhnlichen Kraft beraubt, starb er schnell. Der Tod des durch die Qualen ausgezehrten Leibes war jetzt nur noch eine Frage von Minuten. In diesen letzten Momenten seines Lebens war es seine größte Sorge, alle Einzelheiten seiner Mission bis zum Ende auszuführen. Johannes schreibt: „Danach, da Jesus wußte, daß alles schon vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde:”
„Mich dürstet!”Das Durstgefühl war Jesus wohlbekannt, aber selbst dann, als er die samaritäische Frau um Wasser bat, richteten sich seine Worte an die Frau und das Wasser: „Gib mir zu trinken”, sagte er damals. Im letzten Moment seines irdischen Lebens lehrt Jesus nicht mehr, er nützt die Gelegenheit nicht aus, um den Jüngern eine Lektion zu erteilen. Seinen geistigen Blick richtet er in diesem Moment ausschließlich auf sich selbst und seine Mission, die in wenigen Minuten ein Ende nehmen soll. „Mich dürstet!” ist ein Ausdruck, der den inneren Zustand des Menschen Jesus wenige Momente vor seinem Tod beschreibt. Das Gefühl des Elends und der Verlassenheit, welches so viele Menschen in dieser Welt kennen, wurde auch zu seiner letzten Empfindung im irdischen Körper. Jesus fühlte sich wahrscheinlich nie so menschlich. „Mich dürstet!” Dieser Ausdruck beschreibt den Zustand der höchsten Menschlichkeit, der leidenden Menschlichkeit, der Menschlichkeit, die ihr Leben für ihre Nächsten gab. Unsere Beine und Arme reißen sich geradezu darum, den in die bittersaure Flüssigkeit getauchten, an einem langen Schilfrohr befestigten Schwamm zum Munde Jesus zu führen. Keine Jünger mehr, keine Mutter, der Vater hatte ihn verlassen – es blieb nur der römische Soldat, der – ohne sich um die Stimmen der Spötter zu kümmern, dem Erschöpften den Tropfen Flüssigkeit reichte, welcher die ausgetrockneten, sterbenden Lippen nicht mehr erfrischen konnte. Es war mehr als ein „Becher kalten Wassers”, der im Königreich bestimmt nicht vergessen wird. Jesus trank und sagte mit Erleichterung: „Es ist vollbracht”Nun war er vollkommen sicher. Sein Wunsch wurde erfüllt – nicht der Wunsch, den Mund feucht zu machen, sondern der Wunsch der Gerechtigkeit, der Wunsch der Macht, welche sich in der Schwachheit, im Bedürfnis des Gehorsams dem Vater gegenüber bis zum Schluß, dem Wunsch, der von den Sünden erschöpften Menschheit Linderung zu verschaffen, äußerte. Jetzt wurde der Wunsch Jesus endlich erfüllt. „Es ist vollbracht” – dies ist ein Ausdruck des schmerzlichen Triumphs. Jesus war vollkommen sicher, daß nichts mehr passieren kann. Er wußte, daß sein irdisches Leben zum Ende gekommen war und eine listige Handlung des Satans die Pläne Gottes nicht mehr durcheinander bringen konnte. Nichts mehr konnte ihn vom erhobenen Thron des Kreuzes herunternehmen. „Es ist vollbracht” – auf diese Worte wartete das ganze Weltall. Im Himmel kehrte Stille ein. Alle Engel hörten in den erlöschenden Rhythmus des Herzens des Erlösers hinein. Die Cherubinen vergruben ihre Gesichter in den Flügeln, um die Tränen des Himmlischen Vaters nicht zu sehen. Die Ältesten erhoben sich von ihren Thronen und verbeugten sich vor dem Thron Gottes in einer tiefen Verneigung. Der schwarze Vorhang der Traurigkeit umhüllte die große Szene, auf welcher sich das Drama der Erlösung der Welt abspielte. In den Herzen von Milliarden von himmlischen Geschöpfen vermischte sich das Gefühl der Erleichterung mit einem reißenden Schmerz. Es gab keine Lieder, keine Triumphausrufe, keinen Applaus. Die Engel ließen die Flügel hängen und entfernten sich langsam in die abgelegensten Winkel des Weltalls, um dort in Einsamkeit auf den freudigen Morgen der Auferstehung zu warten. Doch dies wäre eine andere Geschichte. In diesem Moment fühlte Jesus mit ganzer Kraft, wie das Leben aus ihm entfliegt. Der Geist, welchen ihm einst, ganz am Anfang, der Himmlische Vater persönlich gab. Der Geist, welcher so oft in seiner Fülle den Leidenden, den Kranken, den Traurigen und den Hungrigen half, kehrte nun zu Gott zurück. Die sterbenden Lippen flüsterten Worte des Psalms: „Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist!”Er hörte das Poltern der bebenden und zerfallenden Felsen nicht mehr. Er sah den zerreißenden Vorhang im Tempel nicht . Er schaute nicht mit Tränen in die erschrockenen Gesichter der Menschen, welche eilig den Ort des größten Verbrechens des Weltalls verließen. Er litt nicht mehr. Jesus schlief ... Liebe Geschwister! In wenigen Minuten werden wir nach dem ungesäuerten Brot greifen, das für uns gebrochen wurde. Laßt uns dabei bedenken, wieviel Kummer, wieviel Schmerz, wieviel Leiden ein gebrochenes Stück ungesäuerten Brotes enthält. Wir werden den Kelch des Bündnisses miteinander Teilen. Wer kann die Tränen und die Leiden zählen, die sich in einem Schluck Wein verbergen. Wir sind von Schmerz durchdrungen. Traurigkeit erfüllt unsere Herzen. In unserem Herzen wächst eine Dankbarkeit, die sich nicht in Worte fassen läßt. Dies ist die wahre Danksagung, die Freude der Teilnahme an dem großen Drama der Erlösung. Gütiger Herr Jesus, Dank sei Dir für Dein Leiden und für das Opfern Deines vollkommenen Lebens. Amen. Daniel Kaleta |